Frischzellenkur für Sanatoriumsmöbel

Wer durch den Kurpark in Wyk auf Föhr streift, stößt irgendwann auf einen Gedenkstein, an dessen nur grob bear­beiteter Vorderseite ein Bronzerelief mit dem Profil eines bebrillten Herrn angebracht ist. Die etwas unbeholfen in den Stein gehauene Inschrift darunter lautet: „Sanitätsrat Dr. med. Karl Gmelin“. Für Schwaben hat der Familienname einen tiefen Klang, bezeichnet er doch Ange­hörige der sogenannten Ehrbarkeit, des humanistisch geprägten Patriziertums Württembergs. In der Tat hatte Gmelin (1863 –1941) in Tübingen Medizin studiert, bevor er im Anschluss an seine Promotion 1898 in Wyk auf der Insel Föhr das Nordsee-Sanatorium Haus Tübingen gründete. Dort setzte er seine im Studium geformten Ideen der Naturheilkunde in großem Stile um und widmete sich gemeinsam mit Carl Häberlin (1870 –1954) den natürlichen Heilkräften von Wasser, Sonne und Luft.  Auf dem Areal eines Parkgeländes errichtete der Architekt und Kunst­theoretiker August Endell (1871 –1925) für Gmelin den Sanatoriumsbau.

 

Endell ist allen Jugendstil-Begeisterten bestens vertraut, hat er doch mit dem ersten der Hackeschen Höfe, dem Haus am Steinplatz und der Trabrennbahn Mariendorf in Berlin oder dem durch die National­sozialisten verstümmelten und später abgerissenen Hofatelier Elvira in München Ikonen der Jugendstilarchitektur hinterlassen. Da Lebens- und Kunst­reform um 1900 eng miteinander einhergingen, überrascht es nicht, dass Endell mit einem „ganzheitlichen“ Entwurf für das Nordsee-Sanatorium beauftragt wurde. Es umfasste neben der baulichen Hülle auch das Mobiliar der Gmelinschen Anstalt. Für das Bröhan-Museum, das international ausgerichtete Berliner Landesmuseum für Jugendstil, Art Deco und Funktionalismus, war es ein Glücksfall, als ihm die Stiftung Nordfriesland 2015 ein Konvolut der Endellschen Sanatoriumsmöbel aus Haus Tübingen schenkte. Man hatte angenommen, sie seien ver­lorengegangen.

 

Tatsächlich aber waren sie seit den 1980er-Jahren im Husumer Schloss, dem Sitz des Kulturamts Nordfriesland, eingelagert. Nicht zuletzt aufgrund der langen Einlagerung bestand dringender Restaurierungsbedarf, zumal die teilweise nachträglich übermalten Großmöbel in ihre Einzelteile zerlegt worden waren.

 

Mit diesem Möbelensemble lässt sich die Einrichtung eines Patientenzimmers, die fotografisch überliefert ist, nun auch physisch vollständig wiederherstellen. Es umfasst alle Teile einer von Bett und Schrank über Tisch, Toilettenstuhl und Sitzmöbel bis hin zu Waschkommode und Handtuchhalter reichenden Zimmereinrichtung. Dynamische Schwünge und Kurvaturen, zurückhaltender, verhalten farbig betonter Ornamentschmuck mit Wellenlinien, die auf die Nordsee anspielen, und ein hohes Maß an Eleganz und Funktionalität zeichnen die einzelnen Stücke aus. Nach der Reinigung und der Abnahme späterer Fassungen erhalten sie eine Schutzlackierung, nachdem Fehlstellen oder Schäden retuschiert beziehungsweise gekittet worden sind. Man ahnt, dass die satten Brauntöne des verwendeten Holzes den Patientenzimmern ganz im Sinne der Reformgedanken eine behagliche und optisch beruhigende Ausstrahlung ver­liehen haben.

 

Die lange Zeit verloren geglaubten Möbelstücke fügen sich trefflich in die bestehende Sammlung des Bröhan-Museums ein und ergänzen dort den Sammlungsbereich des deutschen Jugendstils. Die Ausstattung von Haus Tübingen entstand als erster Großauftrag in den 1898 gegründeten Dresdner Werkstätten für Handwerkskunst. Bereits wenige Monate nach ihrer Eröffnung zeigten die Werkstätten einen Teil der Möbel auf der vielbeachteten Volksthümlichen Ausstellung für Haus und Herd. Dies unterstreicht das Bestreben der damaligen Gestalter-Avantgarde, durch mustergültige Entwürfe auch andere (Kunst-) Handwerker zu den im damals erschienenen Katalog formulierten Prinzipien zu bekehren: „Imitationen, Unechtes, Unwahres kann uns auf die Dauer ebenso wenig befriedigen wie Unschönes, Ueberladenes.“

 

Diese Worte illustr­ieren zuspitzend das Bestreben der Reformbewegungen um 1900 – den Möbelungetümen, die man aus der historistisch geprägten Zeit des Kaiserreichs kennt, wurden Entschlackungs­kuren verordnet, sie wurden wie die aufgeschlossenen Damen der Gesellschaft in sanft fallende Formen gekleidet oder in ihrer unverfälschten Holzsichtigkeit gleichsam in Pendants der Freikörperkultur umgedeutet. Dies alles passt genau zu den Ideen des Balneologen Gmelin und seines Kollegen Häberlin, die der saturierten Gründerzeitgesellschaft eine ähnliche Verjüngungskur mittels der Rückbesinnung auf die Heilkräfte der Natur verschrieben. Der Freundeskreis der Kulturstiftung der Länder freut sich, dass er mit einem namhaften Beitrag Endells Sanatoriumsmöbel in einen Zustand versetzen konnte, der ihre zukünftige Präsentation in der Schausammlung des Bröhan-Museums erlaubt.

 

Text: Prof. Dr. Frank Druffner, stellvertretender Generalsekretär der Kulturstiftung der Länder und Geschäftsführer des Freundeskreises. 

 

Bilder: Teile des Möbelensembles aus dem Nordsee-Sanatorium in Wyk auf Föhr von August Endell, gefertigt in den Dresdner Werkstätten für Handwerkskunst Schmidt und Müller, um 1900; Bröhan-Museum, Berlin; © Bröhan-Museum, Berlin / Foto: Martin Adam, Berlin

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